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2019 gab es 20 Bergtote - Einsatzzahlen durch die Corona-Krise im März und April trotz des anhaltend schönen Wetters in der Region mehr als halbiert – regionaler Krisenstab zur Beratung, Versorgung und Unterstützung der Bereitschaften rund um die Uhr erreichbar

ALTÖTTING/BERCHTESGADENER LAND/LANDKREIS TRAUNSTEIN (ml) – Die rund 600 ehrenamtlichen Einsatzkräfte der 15 Bergwachten in der Region Chiemgau (Landkreise Altötting, Berchtesgadener Land und Traunstein) waren 2019 bei insgesamt 1.152 gefordert; nochmal 58 mehr als im Vorjahr und bedingt durch das anhaltend gute Wetter und den Tourismus so viele wie nie zuvor – 20 Menschen starben in den Berchtesgadener und Chiemgauer Alpen. Wegen der Corona-Krise haben sich trotz sehr vieler Sonnentage die Einsatzzahlen im März und April 2020 von 151 (2019) auf 70 mehr als halbiert – noch immer fehlen die Touristen in der Region und die meist bergerfahrenen Einheimischen passen offensichtlich gut auf sich auf. Regionalleiter Dr. Klaus Burger und sein Team bedanken sich ausdrücklich für die Solidarität und Rücksicht der Bergsteiger in der Region Chiemgau, die nach einem eindringlichen Appell der Einsatzkräfte wohl aktuell erkennbar vorsichtiger und weniger riskant unterwegs sind als sonst.

Bergwacht ist trotz der Krise rund um Uhr voll einsatzbereit
„Niemand will in der Krise außerordentlich das Gesundheitswesen belasten, weshalb sich der Großteil der Menschen noch immer in Zurückhaltung übt, was uns während der vergangenen Wochen sehr geholfen hat. Trotzdem waren und sind wir einsatzbereit und im Notfall für jeden da, der unsere Hilfe braucht. Niemand muss Angst haben, im Notfall die 112 anzurufen“, betont Burger, der aber auch auf die besonderen Schwierigkeiten für die Bergwacht hinweist: Bei einem Einsatz auf einer ausgebauten Forststraße kann das Fahrzeug in der Regel bis zum Patienten fahren – zwei Retter sind eine gute Stunde gefordert. Im unwegsamen Gelände werden die Einsätze sofort wesentlich aufwendiger, personal- und zeitintensiver, wobei auch 20 oder mehr Retter über mehrere Stunden ohne großen Abstand zusammenarbeiten müssen – mit nur einem COVID-19-Fall bei Patienten, Begleitern oder Einsatzkräften muss eine halbe Bereitschaft in Quarantäne – sehr spezialisierte Einsatzkräfte, die beim nächsten Notfall niemand ersetzen kann. Der Einsatz von Schutzausrüstung wie Masken und Kittel ist bedingt durch körperliche Anstrengung und Gelände wesentlich schwieriger und belastender als an einfach erreichbaren Einsatzstellen.

Um das Ansteckungsrisiko durch die Gruppenbildung zu reduzieren fallen seit der Krise auch die wöchentlichen Treffen zum Bereitschaftsabend und die Aus- und Fortbildungen aus. Defizite in der Leistungsfähigkeit und im Können ergeben sich daraus in der kurzen Zeit noch nicht, allerdings leiden Kameradschaft und Gemeinschaft – wichtige Fundamente des Bergrettungsdienstes, der vor allem durch eingespielte Teamarbeit mit viel Zusammenhalt und gegenseitigem Vertrauen gut funktioniert. Die Regionalleitung und die Geschäftsstelle der Bergwacht Chiemgau haben bereits vor Beginn der Krise im März einen Stab ins Leben gerufen, der Konzepte erarbeitet, für die 15 Bereitschaften telefonisch rund um die Uhr erreichbar ist, ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht und die Versorgung mit zeitweise knapper Ausrüstung wie Atemschutzmasken über den landesweit zentralen Einkauf des Roten Kreuzes sicherstellt.

20 Bergtote im Chiemgau
Im vergangenen Jahr gab es 20 Bergtote in den Berchtesgadener und Chiemgauer Alpen; 2018 waren es 15. Dabei sind nicht alle abgestürzt, sondern auch durch akute internistische Erkrankungen wie einen Herzinfarkt ums Leben gekommen: Sieben Menschen starben beim Wandern, jeweils zwei beim Bergsteigen und beim Bergradeln und jeweils einer beim Skitourengehen (Lawine) und beim Klettern – sieben bei anderen Aktivitäten, wobei immer auch der Kriseninterventionsdienst (KID) zur Betreuung von betroffenen Begleitern und Angehörigen im Einsatz war. „Die Zahl der Toten unterliegt regionalen Schwankungen, die einfach davon abhängen, wie viele Leute unterwegs sind. Belastbare Schlussfolgerungen können wir daraus nicht ziehen, wir hatten aber wie bereits 2018 wieder einen extrem schönen Bergsommer, das heißt, es zog mehr Menschen und Bergsteiger ins Gebirge als in einem verregneten Sommer“, erklärt der stellvertretende Regionalleiter Michael Holzner. Bayernweit blieb die Zahl aber mit rund 80 bis 100 Toten jährlich während der letzten Jahre ziemlich konstant. Die meisten Unfälle passierten beeinflusst durch Erschöpfung, Konzentration und Geschwindigkeit im Abstieg und bei der Abfahrt. Die Einsätze der Bergwachten in der Region Chiemgau für verletzte, erkrankte oder in Bergnot geratene Menschen verteilen sich auf verschiedene Sportarten, wobei wieder am Meisten beim Skifahren auf der Piste (364), Wandern (292) und Bergsteigen (180) passiert ist, gefolgt von Bergradeln (48), Snowboarden (44) und Klettern (41), Skitouren (24), Gleitschirmfliegen (15), Langlaufen (11),  Rodeln (10), Schneeschuhwandern (6), Berglaufen (3), Klettersteig-Gehen (3), Arbeitsunfällen (2), Höhlengehen (1) und Hüttenaufenthalten (1). Dabei wurden 316 der Einsätze mit Hubschrauber-Unterstützung abgewickelt, also entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nur rund ein Viertel; in den meisten Fällen ist die Bergwacht zu Fuß im unwegsamen Gelände unterwegs, wobei die Heli-Einsätze mit der Erwartungshaltung der Betroffenen tendenziell aber mehr werden.

Außergewöhnliche Einsätze waren die große Rettungsaktion für eine abgestürzte 22-Jährige am Watzmanngrat, riskante Lawinen-Einsätze am Teisenberg und im Ofental, die große Schnee-Katastrophe, ein 100-Meter-Absturz an der Schlafenden Hexe, der tödliche Unfall im Königsbach-Wasserfall, tödliche Abstürze wie am Kehlstein oder in der Watzmann-Ostwand, Waldbrände am Poschberg und am Müllnerhörndl, aufwendige Rettungen für Verstiegene am Poschberg und am Blausandpfeiler, der tödliche Flugzeugabsturz am Bogenhorn, ein letztlich tödlicher Absturz am der Watzmann-Südspitze, winterliche Einsätze in der Eisbärtour, am Watzmann und am Hundstodgatterl, aufwendige Such- und Rettungseinsätze wie am Kehlstein, am Teufelskopf und am Untersberg und ein drei Wochen vermisster Hund, der plötzlich wieder unversehrt aufgetaucht war.

Neuer Rekord an Einsätzen, aber relative Zahlen sinken
Die relativen Unfallzahlen nehmen aber weiter ab, wenn man davon ausgeht, dass immer mehr Menschen in den Bergen unterwegs sind. Besonders häufig sind die Bergwachten und damit einzelne Bereitschaften an wenigen, sehr bekannten und beworbenen Urlauber-Hotspots gefordert, wo Massen-Tourismus in einem fließenden Übergang direkt ins alpine Gelände mündet, in dem ansonsten eigentlich ausschließlich Bergsteiger mit entsprechender Erfahrung, Kondition, Können und Ausrüstung unterwegs wären, was beispielsweise in Klettersteigen, im Umfeld von Seilbahnen, in Wintersportgebieten und an weltbekannten Orten wie dem Königssee (Kingslake), dem Watzmann oder Eagles Nest passiert. Viele erfahrene Bergsteiger und Kletterer helfen sich im Notfall selbst und gegenseitig und brauchen die Bergwacht gar nicht, außer es ist jemand schwerer verletzt und die Umstände sind entsprechend schwierig. „Die absolute Zahl der Einsätze spiegelt nie den tatsächlichen Aufwand wider, denn an komplexen, größeren Rettungen sind oft 30 oder mehr Einsatzkräfte beteiligt; bei Suchaktionen auch mehrere Tage hintereinander“, erklärt Geschäftsführer David Pichler, der mit der Regionalleitung den rund 600 ehrenamtlichen Bergrettern der gesamten Region für ihr leidenschaftliches, außergewöhnliches  Engagement dankt: „Bergwacht ist Leidenschaft, daraus erwachsend unsere besondere Tatkraft und Schlagkraft!“

Immer mehr so genannte Blockierungen
Burger, der bis vor kurzen auch Vorsitzender des Deutschen Gutachterkreises für Alpinunfälle war, beobachtet, dass die Zahl der so genannten mentalen und objektiven Blockierungen zunimmt, also immer mehr Menschen aus Bergnot gerettet werden müssen, die eigentlich unverletzt und auch nicht akut erkrankt sind, allerdings an ihre psychischen, körperlichen und bergsteigerischen Grenzen stoßen. Ursächlich sind fast nie schlechte oder fehlende Ausrüstung, sondern vor allem Selbstüberschätzung, oft bedingt durch mangelnde Fitness, Bergerfahrung und Übung. Die Beschleunigung und Technisierung des Lebens und der Arbeitswelt tragen nach Einschätzung der Bergwacht Chiemgau auch ihren Teil dazu bei, dass immer mehr Menschen Aktivitäten in der alpinen Welt entfalten und in kurzer Zeit viel erleben wollen, und vereinzelt auch zur Selbstüberschätzung neigen. Dadurch passiert tendenziell auch immer mehr am Abend und in der Nacht, da viele Menschen erst nach Feierabend zur Bergtour starten. Die Bergwacht bezieht als ehrenamtliche Gemeinschaft des Roten Kreuzes gemäß ihrer Grundsätze eine neutrale Position und bewertet die oft hitzig geführten öffentlichen Diskussionen zu Schuld und Kosten bei vermeintlich selbstverschuldeten, fahrlässigen und vermeidbaren Einsätzen aus Prinzip nicht und will deshalb auch niemanden öffentlichen belehren.

Auswirkungen des Handys
Das fast überall verfügbare Handy verleitet manche Menschen zum übereilten Notruf, hilft aber vor allem, Leben zu retten und macht die Einsätze für die Bergwacht meist wesentlich einfacher als früher. „Dass manche Notrufe nerven oder aus unserer Sicht nicht notwendig sind, ist richtig, es handelt sich aber um klar überschaubare Einzelfälle. Sie bewegen sich im Chiemgau nach wie vor in einem erträglichen Ausmaß, das gut zu verkraften ist. Einzelne Negativbeispiele werden natürlich medial breitgetreten; diese Fälle haben aber mit Bergsport und der weit überwiegenden Anzahl unserer Rettungen nichts zu tun. Wir empfehlen nachhaltig, das aufgeladene Handy als Notfall-Ausrüstung mitzuführen. Wir sind froh, wenn jemand Koordinaten durchgeben kann und empfehlen den Leuten, lieber zu früh als zu spät einen Notruf abzusetzen, vor allem wenn das Wetter schlechter wird oder die Nacht anbricht, da Rettungsaktionen da wesentlich einfacher durchzuführen sind“, erklärt Burger. Die Bergwacht gibt aber zu bedenken, dass in einigen Regionen kein Netz verfügbar ist und man sich nicht immer nur aufs Handy verlassen sollte.

„Die Möglichkeiten des Handys können in seltenen Fällen zu einer nicht objektiv erforderlichen Alarmierung verleiten. Wir sind aber alle selbst Bergsteiger, sollten nicht zu streng sein und auch emotional gelassen bleiben, da wir Retter und keine Richter sind. Wir haben ein gutes Risiko-Management bei den Einsätzen und wissen, was wir tun müssen, sollen und zu unterlassen haben!“, betonen Burger und Holzner.

Die Einsatzzahlen hängen auch von Wetter und Tourismus ab
„Die Zahl der Einsätze hängt vor allem vom Wetter während der Haupturlaubszeiten und davon ab, ob es einen schneereichen Winter und schönes Wetter gab, da dann allgemein mehr Leute unterwegs sind und die Bergwacht in den Skigebieten viel mehr Arbeit hat. Ist zur Ferienzeit gutes Bergwetter, dann sind auch mehr Menschen am Berg – und wo mehr los ist, passiert in der Regel auch mehr“, erklärt Pichler. Die Bergwacht in der Region Chiemgau arbeitet trotz ihres ehrenamtlichen Charakters stetig professioneller. Spezialisierte Gruppen stehen zusätzlich zur Rettung aus wasserführenden Schluchten bereit (Canyon-Rettung), kümmern sich um die psychische Betreuung von Betroffenen nach schweren Bergunfällen (Kriseninterventionsdienst (KID)) oder bilden Suchhunde für Lawineneinsätze (Lawinen- und Suchhundestaffel) aus. Die Bergwacht Freilassing ist zusätzlich Bergrettungswache für Höhlenrettung und deckt den südostbayerischen Raum bis Rosenheim und das Salzburger Grenzgebiet in enger Zusammenarbeit mit der Salzburger Höhlenrettung ab.

Neue Koordinierungsgruppe bewährt sich
Die 2018 neu aufgestellte Koordinierungsgruppe für große Schadensfälle, die aus der Regionalleitung, erfahrenen Einsatzleitern und den Chefs der Spezialeinsatzkräfte für Canyon-Rettung, Lawinen- und Suchhunde, Krisenintervention, Umweltschäden und Höhlenrettung besteht, und von Andreas Zenz aus Bergen geleitet wird, hat sich während der Schnee-Katastrophe im Januar 2019 und jetzt während der Corona-Krise sehr gut bewährt. Sie unterstützt und entlastet nach Anforderung die örtlichen Bereitschaften bei großen Schadenslagen fachlich und logistisch mit mobiler Infrastruktur und Technik für eine Einsatzleitung abseits der Zivilisation, kümmert sich um die Stabsarbeit und Zusammenarbeit mit Partnern und anderen Organisationen (z. B. andere Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei, Forst, Hubschrauber-Betreiber, Sanitätseinsatzleitung, Örtlicher Einsatzleiter, Führungsgruppe Katastrophenschutz) und übernimmt Aufgaben wie Dokumentation, Lage-Darstellung und Registrierung, wie sie bei einem Massenanfall an Verletzten oder Erkrankten notwendig ist, beispielsweise bei einer großem Lawine, einem Felssturz, dem Brand einer Almhütte, einem Wettersturz im Gebirge mit vielen Unterkühlten oder bei einer Infektionserkrankung in einer abgelegenen Massen-Unterkunft. Sie unterstützt darüber hinaus die Regionalleitung bei der Übernahme großer Einsätze von den örtlichen Bereitschaften, koordiniert überregionale Einsätze nach Anforderung wie bei Hochwasser- oder Brand-Katastrophen und steht auch für Auslandseinsätze zur Verfügung, wo die Spezialisten der Bergwacht in der Vergangenheit immer wieder wertvolle Hilfe geleistet haben, beispielsweise bei Höhlen-Unfällen, bei Lawinenabgängen oder Vermisstensuchen.Aktuell sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Koordinierungsgruppe wegen der bestehenden Katastrophenlage in den Landkreisen Traunstein und Berchtesgadener Land und in landesweiten Krisenstäben engagiert.

Umwelt-Einsatzgruppe Bergwacht Altötting bei Bergwaldbrand gefordert
Feuerfeste Seile und Schlingen, Feuerpatschen und Rucksack-Spritzen, Absperr-Material für Wege und Steige und Bergungsmaterial für kleine und große Tiere: Zur Verfestigung und Qualitätssicherung des Einsatzspektrums hat die Bergwacht Altötting 2019 eine Spezial-Aufgabe zugewiesen bekommen, und zwar Umwelt-Einsätze im Gebirge, beispielsweise Unterstützung der Feuerwehren und heimischen Bergwachten bei Waldbränden, bei Tierbergungen oder Muren-Abgängen. Die Gruppe ist mit rund einer Stunde Vorlaufzeit über die Leitstelle Traunstein für die Berchtesgadener und Chiemgauer Alpen, aber auch überregional im unwegsamen Gelände auf Anforderung der Bergwachten und Feuerwehren zur Unterstützung alarmierbar und war unter anderem beim Bergwaldbrand am Müllnerhörndl mit dabei.

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