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15 Bergtote und immer mehr Alarme nach Feierabend - Ehrenamtliche Bergretter blicken bei Jahreshauptversammlung auf neue Rekord-Einsatzzahlen zurück

BAD REICHENHALL (ml) – Die rund 600 ehrenamtlichen Einsatzkräfte der 15 Bergwachten in der Region Chiemgau (Landkreise Altötting, Berchtesgadener Land und Traunstein) waren 2018 bei insgesamt 1.094 Einsätzen gefordert; elf Prozent (108) mehr als im Vorjahr und bedingt durch das anhaltend gute Wetter so viele wie nie zuvor. Insgesamt mussten sie 15 Tote bergen – vier weniger als 2017, wie Regionalleiter Dr. Klaus Burger, sein Stellvertreter Michael Holzner und Geschäftsführer David Pichler anlässlich der Jahreshauptversammlung in Bad Reichenhall berichteten, an der auch der Ehrenvorsitzende der Bergwacht Bayern, Landtagspräsident a.D. Alois Glück, und der neue Geschäftsführer der Bergwacht Bayern, Klaus Schädler teilnahmen. Die meisten Unfälle passierten beeinflusst durch Erschöpfung, Konzentration und Geschwindigkeit im Abstieg und bei der Abfahrt.

Neuer Rekord an Einsätzen, aber relative Zahlen sinken
„Die relativen Unfallzahlen nehmen aber ab, wenn man davon ausgeht, dass immer mehr Menschen in den Bergen unterwegs sind. Wir sollten deshalb gelassen bleiben und uns hüten, falsche, nicht belastbare Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Steigerungen sind in den Sportarten Wandern, Bergsteigern und Mountainbiken auffällig. Auch wenn wir mehr Rettungseinsätze haben, mithin die absoluten Unfallzahlen steigen, so ist angesichts der wachsenden Bergsport-Aktivitäten und der Zunahme der Wanderer und Biker in den alpinen Regionen doch festzuhalten, dass die relativen Unfallzahlen sinken oder zumindest nicht steigen. Freilich: Outdoor-Sport und Erlebnis-Sehnsüchte sind im Trend und werden weiter boomen; die bayerischen Alpen sind gefragt wie offenbar nie zuvor, darauf müssen wir uns einstellen“, erklärt Burger, der auch feststellt, dass die Zahl der Einsätze für Unverletzte, so genannte blockierte, in Bergnot geratene Menschen, die sich versteigen oder mit Gelände und Wetter überfordert sind, seit Jahren zunimmt.

Besonders häufig sind die Bergwachten und damit einzelne Bereitschaften an wenigen, sehr bekannten und beworbenen Urlauber-Hotspots gefordert, wo Massen-Tourismus in einem fließenden Übergang direkt ins alpine Gelände mündet, in dem ansonsten eigentlich ausschließlich Bergsteiger mit entsprechender Erfahrung, Kondition, Können und Ausrüstung unterwegs wären, was beispielsweise in Klettersteigen, im Umfeld von Seilbahnen, in Wintersportgebieten und an weltbekannten Orten wie dem Königssee (Kingslake), dem Watzmann oder Eagles Nest passiert. Viele erfahrene Bergsteiger und Kletterer helfen sich im Notfall selbst und gegenseitig und brauchen die Bergwacht gar nicht, außer es ist jemand schwerer verletzt und die Umstände sind entsprechend schwierig. „Die absolute Zahl der Einsätze spiegelt nie den tatsächlichen Aufwand wider, denn an komplexen, größeren Rettungen sind oft 30 oder mehr Einsatzkräfte beteiligt; bei Suchaktionen auch mehrere Tage hintereinander“, erklärt Geschäftsführer David Pichler, der mit der Regionalleitung den rund 600 ehrenamtlichen Bergrettern der gesamten Region für ihr leidenschaftliches, außergewöhnliches  Engagement dankt: „Bergwacht ist Leidenschaft, daraus erwachsend unsere besondere Tatkraft und Schlagkraft!“

Immer mehr so genannte Blockierungen
Burger, der bis vor kurzen auch Vorsitzender des Deutschen Gutachterkreises für Alpinunfälle war, beobachtet, dass die Zahl der so genannten mentalen und objektiven Blockierungen zunimmt, also immer mehr Menschen aus Bergnot gerettet werden müssen, die eigentlich unverletzt und auch nicht akut erkrankt sind, allerdings an ihre psychischen, körperlichen und bergsteigerischen Grenzen stoßen. Ursächlich sind fast nie schlechte oder fehlende Ausrüstung, sondern vor allem Selbstüberschätzung, oft bedingt durch mangelnde Fitness, Bergerfahrung und Übung. Die Bergwacht bezieht als ehrenamtliche Gemeinschaft des Roten Kreuzes gemäß ihrer Grundsätze eine neutrale Position und bewertet die oft hitzig geführten öffentlichen Diskussionen zu Schuld und Kosten bei vermeintlich selbstverschuldeten, fahrlässigen und vermeidbaren Einsätzen aus Prinzip nicht und will deshalb auch niemanden öffentlichen belehren.

Auswirkungen des Handys
Das fast überall verfügbare Handy verleitet manche Menschen zum übereilten Notruf, hilft aber vor allem, Leben zu retten und macht die Einsätze für die Bergwacht meist wesentlich einfacher als früher. „Dass manche Notrufe nerven oder aus unserer Sicht nicht notwendig sind, ist richtig, es handelt sich aber um klar überschaubare Einzelfälle. Sie bewegen sich im Chiemgau nach wie vor in einem erträglichen Ausmaß, das gut zu verkraften ist. Einzelne Negativbeispiele werden natürlich medial breitgetreten; diese Fälle haben aber mit Bergsport und der weit überwiegenden Anzahl unserer Rettungen nichts zu tun. Zum einen empfehlen wir, das aufgeladene Handy als Notfall-Ausrüstung mitzuführen. Wir sind froh, wenn jemand Koordinaten durchgeben kann und empfehlen den Leuten, lieber zu früh als zu spät einen Notruf abzusetzen, vor allem wenn das Wetter schlechter wird oder die Nacht anbricht, da Rettungsaktionen da wesentlich einfacher durchzuführen sind“, erklärt Burger. Die Beschleunigung und Technisierung des Lebens und der Arbeitswelt tragen nach Einschätzung der Bergwacht Chiemgau auch ihren Teil dazu bei, dass immer mehr Menschen Aktivitäten in der alpinen Welt entfalten und in kurzer Zeit viel erleben wollen, und vereinzelt auch zur Selbstüberschätzung neigen. 

Mehr Alarme nach Feierabend
Die Retter stellen auch fest, dass der Zeitpunkt für Unfälle und entsprechende Alarmierungen bei Notfällen nach 16 Uhr über die Jahre bayernweit signifikant steigt – unter anderem auch, weil es durch das Handy sehr einfach ist, anzurufen und Hilfe anzufordern. Die Bergwacht empfiehlt die Mitnahme eines geladenen Handys explizit als Teil der Notfall-Ausrüstung, gibt aber zu bedenken, dass in einigen Regionen kein Netz verfügbar ist und man sich nicht immer nur aufs Handy verlassen sollte. Das Handy ermöglicht zeitnahe Rettung, kann bei nicht mehr ansprechbaren oder vermissten Bergsteigern unter anderem vom Hubschrauber aus geortet werden, wodurch sich die Überlebenschancen um ein Vielfaches erhöhen, und hilft auch, Suchaktionen erfolgreich zu gestalten oder Suchaktionen zu vermeiden. „Die Möglichkeiten des Handys können in seltenen Fällen zu einer nicht objektiv erforderlichen Alarmierung verleiten. Wir sind aber alle selbst Bergsteiger, sollten nicht zu streng sein und auch emotional gelassen bleiben, da wir Retter und keine Richter sind. Wir haben ein gutes Risiko-Management bei den Einsätzen und wissen, was wir tun müssen, sollen und zu unterlassen haben!“, betont der stellvertretende Regionalleiter Michael Holzner.

15 Bergtote im Chiemgau
Im vergangenen Jahr gab es 15 Bergtote in den Berchtesgadener und Chiemgauer Alpen; 2017 waren es 19. „Das sind regionale Schwankungen, die einfach davon abhängen, wie viele Leute unterwegs sind. Belastbare Schlussfolgerungen können wir daraus nicht ziehen, wir hatten einen extrem schönen Bergsommer, das heißt, es zog mehr Menschen und Bergsteiger ins Gebirge als in einem verregneten Sommer“, erklärt Burger. Bayernweit blieb die Zahl aber mit rund 80 bis 100 Toten jährlich während der letzten Jahre ziemlich konstant. Die Einsätze der Bergwachten in der Region Chiemgau für verletzte, erkrankte oder in Bergnot geratene Menschen verteilen sich auf verschiedene Sportarten, wobei am Meisten beim Skifahren auf der Piste (366), Wandern (244) und Bergsteigen (157) passiert ist, gefolgt von Snowboarden (97),  Bergradeln (41) und Klettern (41), Sucheinsätzen (31),  Skitouren (30), Gleitschirmfliegen (20), Rodeln (14), Langlaufen (7),  Lawinen (5), Eisklettern (1), Drachenfliegen (1), Schneeschuhwandern (1) und Sonstigem (74). Dabei wurden 254 der Einsätze mit Hubschrauber-Unterstützung abgewickelt, also entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nur rund ein Viertel; in den meisten Fällen ist die Bergwacht zu Fuß im unwegsamen Gelände unterwegs. 

Die Einsatzzahlen hängen auch von Wetter und Tourismus ab
„Die Zahl der Einsätze hängt vor allem vom Wetter während der Haupturlaubszeiten und davon ab, ob es einen schneereichen Winter und schönes Wetter gab, da dann allgemein mehr Leute unterwegs sind und die Bergwacht in den Skigebieten viel mehr Arbeit hat. Ist zur Ferienzeit gutes Bergwetter, dann sind auch mehr Menschen am Berg – und wo mehr los ist, passiert in der Regel auch mehr“, erklärt Pichler. Die Bergwacht in der Region Chiemgau arbeitet trotz ihres ehrenamtlichen Charakters stetig professioneller. Spezialisierte Gruppen stehen zusätzlich zur Rettung aus wasserführenden Schluchten bereit (Canyon-Rettung), kümmern sich um die psychische Betreuung von Betroffenen nach schweren Bergunfällen (Kriseninterventionsdienst (KID)) oder bilden Suchhunde für Lawineneinsätze (Lawinen- und Suchhundestaffel) aus. Die Bergwacht Freilassing ist zusätzlich Bergrettungswache für Höhlenrettung und deckt den südostbayerischen Raum bis Rosenheim und das Salzburger Grenzgebiet in enger Zusammenarbeit mit der Salzburger Höhlenrettung ab.

Neue Koordinierungsgruppe bewährt sich
Andreas Zenz (Schleching) und Stefan Strecker (Bad Reichenhall) leiten die 2018 neu aufgestellte Koordinierungsgruppe für große Schadensfälle, die aus der Regionalleitung, erfahrenen Einsatzleitern und den Chefs der Spezialeinsatzkräfte für Canyon-Rettung, Lawinen- und Suchhunde, Krisenintervention, Umweltschäden und Höhlenrettung besteht. Sie unterstützt und entlastet nach Anforderung die örtlichen Bereitschaften bei großen Schadenslagen fachlich und logistisch mit mobiler Infrastruktur und Technik für eine Einsatzleitung abseits der Zivilisation, kümmert sich um die Stabsarbeit und Zusammenarbeit mit Partnern und anderen Organisationen (z. B. andere Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei, Forst, Hubschrauber-Betreiber, Sanitätseinsatzleitung, Örtlicher Einsatzleiter, Führungsgruppe Katastrophenschutz) und übernimmt Aufgaben wie Dokumentation, Lage-Darstellung und Registrierung, wie sie bei einem Massenanfall an Verletzten oder Erkrankten notwendig ist, beispielsweise bei einer großem Lawine, einem Felssturz, dem Brand einer Almhütte, einem Wettersturz im Gebirge mit vielen Unterkühlten oder bei einer Infektionserkrankung in einer abgelegenen Massen-Unterkunft. Sie unterstützt darüber hinaus die Regionalleitung bei der Übernahme großer Einsätze von den örtlichen Bereitschaften, koordiniert überregionale Einsätze nach Anforderung wie bei Hochwasser- oder Brand-Katastrophen und steht auch für Auslandseinsätze zur Verfügung, wo die Spezialisten der Bergwacht in der Vergangenheit immer wieder wertvolle Hilfe geleistet haben, beispielsweise bei Höhlen-Unfällen, bei Lawinenabgängen oder Vermisstensuchen. „Außerordentlich bewährt hat sich die schlagkräftige Gruppe jüngst bei der Schnee-Katastrophe in diesem Januar“, lobt Burger, wobei Top-Führungskräfte und die Regionalleitung hautnah eingebunden waren und so auch für mehrtägige Unterstützung der heimischen Kräfte durch bis zu 70 Bergretter aus den nördlichen Regionen Bayerwald, Frankenjura, Fichtelgebirge und Rhön-Spessart sorgten.

Umwelt-Einsatzgruppe Bergwacht Altötting startet 2019
Feuerfeste Seile und Schlingen, Feuerpatschen und Rucksack-Spritzen, Absperr-Material für Wege und Steige und Bergungsmaterial für kleine und große Tiere: Zur Verfestigung und Qualitätssicherung des Einsatzspektrums hat die Bergwacht Altötting 2019 eine Spezial-Aufgabe zugewiesen bekommen, und zwar Umwelt-Einsätze im Gebirge, beispielsweise Unterstützung der Feuerwehren und heimischen Bergwachten bei Waldbränden, bei Tierbergungen oder Muren-Abgängen. Stefan Lieb von der Bergwacht Altötting  stellte den anwesenden Führungskräften  bei der Jahreshauptversammlung die neue Ausrüstung nebst Fahrzeug und Anhänger und die Einsatzmöglichkeiten vor. Die Gruppe ist mit rund einer Stunde Vorlaufzeit über die Leitstelle Traunstein für die Berchtesgadener und Chiemgauer Alpen, aber auch überregional im unwegsamen Gelände auf Anforderung der Bergwachten und Feuerwehren zur Unterstützung alarmierbar.

Informationen der Landesleitung, des Landesgeschäftsführers, der Ressortleiter der Region Chiemgau und anerkennende Worte von Alois Glück
Burger und Holzner nutzen die Jahreshauptversammlung zunächst, um Thomas Lobensteiner offiziell als stellvertretenden Regionalleiter zu verabschieden. Lobensteiner ist im November 2018 auch auf Initiative der Region Chiemgau zum stellvertretenden Landesleiter der Bergwacht Bayern gewählt worden. Burger dankte für die fachlich wie menschlich ausgezeichnete Zusammenarbeit und freute sich, „einen so kompetenten Mitstreiter nun auf Landesleiterebene zu wissen.“

Lobensteiner informierte über die anstehenden Themen in der Bergwacht Bayern und zugleich als Beauftragter für Luftrettung in der Bergwacht Bayern über die aktuellen Entwicklungen in der Luftrettung, insbesondere über die leistungsstärkeren und zukünftig mit einer Winde statt Tau ausgerüsteten Traunsteiner und Kemptener Rettungshubschrauber „Christoph 14“ und „Christoph 17“. Die Bergwacht-Region Chiemgau hält zur Unterstützung der Hubschrauber-Einsätze im Gebirge zwei Notbetankungsanhänger bereit, um die Maschinen in unmittelbarer Nähe des Einsatzortes nachtanken zu können. „Dies spart sehr viel Zeit und hilft im Ernstfall Leben zu retten“, erklärt Lobensteiner. Die Kerosin-Anhänger werden ehrenamtlich von den Bergwachten in Berchtesgaden und Traunstein betreut und können von allen Bergwachten genutzt werden.

Der seit 1. März 2019 neu bestellte hauptamtliche Geschäftsführer der Bergwacht Bayern mit Sitz in Bad Tölz, Klaus Schädler, selbst seit vielen Jahren ein erfahrender ehrenamtlicher Bergretter und Bereitschaftsleiter, nutzte die Hauptversammlung, um sich persönlich vorzustellen und seine Hauptanliegen zu konkretisieren: Unter anderem die Entlastung des Ehrenamts bei Verwaltungsaufgaben, der Bau einer zusätzlichen Unterkunft für die hauptamtlichen Mitarbeiter in Bad Tölz und seine konkrete Hilfe auf allen Ebenen, wo sie nötig ist.

Andreas Zenz, Ressortleiter Einsatz und Chef der Koordinierungsgruppe, Christian Auer, Ausbildungsleiter der Region und zuständig auch für die Sichtungen und Prüfungen, Guido Fick, Leiter des Ressorts Technik, der Bergwacht-Notarzt Sebastian Bähr, einer der Leiter des Bereichs Notfallmedizin, Ressortleiter Kommunikation Matthias Wich, Naturschutz-Chef Franz März, KID-Vertreter und Leiter des Ressorts Recht und Personal, Dr. Florian Schindler und der Ressortleiter für Finanzen, Rainer Schuhegger berichteten über ihre besonderen, oft auch sehr arbeits- und zeitintensiven Tätigkeiten und Aktivitäten. Christian Schieder als Leiter der Canyon-Gruppe, Rudi Hiebl als Chef der hiesigen Höhlenretter und die Vertreter in den BRK-Kreisverbänden Berchtesgadener Land und Traunstein, Helmut Lutz und Bruno Mayer informierten die Führungskräfte aus ihren Aufgabenbereichen.

Alois Glück, langjähriger Vorsitzender und nunmehr Ehren-Vorsitzender der Bergwacht, bedankte sich in einem bewegenden abschließenden Schlusswort bei allen ehrenamtlichen Kräften der Bergwacht und zeigte sich beeindruckt über die vielen Aktivitäten, über den Ausbildungsstand und die technischen Neuerungen in den hiesigen Bereitschaften. Er zollte auch den anwesenden Führungskräften höchste Anerkennung für ihr „leidenschaftliches, selbstloses und äußerst kompetentes Wirken!“ Er kenne keine so schlagkräftige Gruppe, die sich so schnell und ohne große Formalitäten weiterentwickeln und sich neuen Aufgaben stelle könne.